Mit Tätern reden müssen

Bei diesem Text geht es um sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz. Um einen körperlichen Übergriff. Um einen der schlimmsten Momente meines Lebens. Und darum, wie es sich anfühlt, mit einem „Täter“ weiter umgehen zu müssen. Um meine Strategien, damit klarzukommen. Ich schreibe ihn auf, weil ich hoffe, dass er Mut macht, dass er anderen das Gefühl gibt: Du bist nicht allein. Du kannst (Aus-)Wege finden, die für Dich die richtigen sind. Du wirst das überleben.

An die Geschichte, um die es geht, hatte ich ein gutes Jahr lang keinen Gedanken mehr verschwendet. Ich dachte, das Thema wäre durch. Bis ich mich in einer Situation wiederfand, in der ich jede Woche aufs neue mit dem „Täter“ konfrontiert bin, dem Typ, der meine Grenzen verletzt hat. Er leitet eine Arbeitsgruppe, in die mein Chef mich und einen Kollegen von mir entsand hat. Kaum hatte ich davon erfahren, waren tausend Bilder und Ohnmachtsgefühle, all meine Wut und Trauer wieder da, als wäre es gestern gewesen. Ich fuhr zwei Wochen lang Achterbahn – von Gleichgültigkeit über Schockstarre bis hin zu Angst, Panik, schwarzes Loch. Jeden Abend vor der nächsten Arbeitsgruppensitzung konnte ich kaum schlafen, jeden Morgen fuhr ich mit Bauchschmerzen ins Büro. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und was mir schließlich einfiel, überzeugte zunächst weder meine Freund_innen noch mich selbst.

Aber ich fange besser am Anfang an.

Die Vorgeschichte, oder: Frau will Job

Ich arbeite in einer ziemlich großen Institution. Immerhin ist sie groß genug, dass ich vielen Menschen, die in anderen Abteilungen arbeiten, noch nicht einmal zufällig über den Weg laufe. Entsprechend habe ich S. auch nicht in der Institution, sondern bei einer Veranstaltung „außerhalb“ kennen gelernt, an der wir beide aus beruflichen Gründen teilnahmen.

S. arbeitet in dem Bereich in der Institution, der mich am meisten interessiert. Genaugenommen träumte ich seit Jahren davon, irgendwann einmal dorthin wechseln zu können. Also habe ich ein Gespräch mit ihm angefangen – genaugenommen habe ich mich auf die Gelegenheit gestürzt, eine Person aus *diesem* Bereich auf „neutralem“ Boden, auf Augenhöhe kennen zu lernen. Ich fragte ihn über seinen Arbeitsbereich aus, erzählte von meinem Werdegang, ließ durchblicken, dass ich einiges an Expertise mitbringe. Er wirkte ganz begeistert darüber, mich zu treffen, denn in der Tat stand gerade im Raum, eine neue Person in seinem Arbeitsbereich einzustellen. Wir sprachen über die Stelle und über Gestaltungsspielräume. Ich war ziemlich aus dem Häuschen und dachte: Wow. Rechter Zeit, rechter Ort. Vielleicht kann ich ja wirklich bei diesem ziemlich guten Arbeitgeber bleiben *und* endlich zu den Themen arbeiten, zu denen ich seit Jahren arbeiten will? Womöglich sogar auf einer besser bezahlten Stelle, die mehr meinen Qualifikationen entspricht!

Ich blieb also am Ball. S. und ich fingen an, Emails auszutauschen, die im Verlauf von ein, zwei Wochen auch privatere Untertöne bekamen. Wie war dein Wochenende? Wie gelingt Dir so etwas wie eine Work-Life-Balance? Aber der Schwerpunkt lag immer auf politischen, fachlichen, arbeitsbezogenen Diskussionen. Wir hatten tolle Gespräche. Ich habe mich gefreut und auch ein bisschen geschmeichelt gefühlt, dass er offensichtlich daran interessiert war, sich mit mir auszutauschen. Lebendiges Eigeninteresse an mir von Kolleg_innen, die in der Institutionshierarchie über mir stehen, hatte ich bis dahin noch nie erlebt.

Bestimmt spielten da auch klassische heterosexuelle Typ-und-Frau-Muster eine Rolle. Bestimmt hat mir auch gefallen, dass sich ein Typ für mich interessiert. Aber das stand nicht im Zentrum. Ich hatte kein tiefergehendes, persönliches Interesse an ihm. Ich wollte eine Augenhöhe-Beziehung zu einem Kollegen, mit dem ich ähnliche Themen habe. Vor allem wollte ich einen neuen Job.

Der Übergriff, oder: Typ will Frau

Zweimal verabredeten wir uns, um während der Mittagspause einen Spaziergang zu machen und uns zu unterhalten. Da sprachen wir auch mal über privates. Oder genauer: Er sprach über privates. Dass er Kinder hat und mit der Mutter nicht zusammenlebt. Wie er seine neue Wohnung einrichtet. Ich hatte keine Lust darauf, irgendwelche Details über meinen eher „unkonventionellen Lebensstil“ zu offenbaren, und hielt mich bedeckt und allgemein.

Bei unserem zweiten Spaziergang, wir waren in einem Park in der Nähe der Institution, versuchte er plötzlich und ohne Vorwarnung, mir einen Arm um die Schultern zu legen, mich zu sich zu ziehen. Er sagte „Ich will dich küssen, [mein Name]“. Ich war geschockt und machte einen Satz zur Seite. Eine Sache von Millisekunden. Ich erinnere mich nicht mehr, was genau ich danach gesagt habe und wie ich den Weg zurück ins Büro überstanden habe. Ich glaube, dass ich nach außen hin ganz ruhig war und ihm erklärt habe, dass solche Avancen für mich überhaupt nicht klar gehen, dass ich so was nicht von ihm will.

Zurück in der Institution habe ich mich an einem ruhigen Ort versteckt und geheult. Ich zitterte und sah Sterne. Mir war kotzübel. Ich rief einen meiner Beziehungsmenschen an und heulte weiter. Soviel zum Thema „Begegnung auf Augenhöhe“. Soviel zu einem neuen Job. Ich war doch nur die Frau, die mann anfassen darf. Die Tatsache, dass ich mit einem Mann spreche, mich mit einem Mann austausche, bedeutete „natürlich“, dass es eine sexualisierte Ebene geben musste. Wenn ich ein Typ wäre, hätten wir nach unserer ersten Begegnung überhaupt Kontakt gehabt? Oder wäre mir irgendwann einfach „aus heiterem Himmel“ eine neue Stelle angeboten worden? Ich war wütend, tieftraurig, und wahnsinnig enttäuscht. Ich lachte darüber, dass mich so ein „kleiner“ Übergriff so sehr aus der Fassung bringen konnte. Immerhin hatte ich schon viel, viel Schlimmeres in meinen Ex-Beziehungen zu Männern erlebt.

Ich schrieb S. eine Email von meiner Büro-Adresse aus, nur zwei, drei Sätze darüber, dass er mich und meine Grenzen zutiefst verletzt hatte und ich keinerlei Kontakt mehr zu ihm wollte. Daraufhin schrieb er mir mehrere entschuldigende Nachrichten, auch an mein privates Postfach. Als das nicht aufhörte, obwohl ich nicht antwortete, fing ich an, Angst davor zu haben, dass er plötzlich in meinem Büro stehen könnte. Ich ging mit Bauchschmerzen zur Arbeit und öffnete mit Bauchschmerzen mein Email-Programm. Ich vertraute mich zwei Kolleginnen an, die entsetzt reagierten und versprachen, S. im Notfall aus meinem Büro heraus zu prügeln.

In der Institution gibt es keine „neutrale“ Ansprechpartner_in, an die wir uns wenden können, wenn wir sexualisierte Gewalt erleben. Die einzige Person, mit der ich „offiziell“ hätte reden können, ist diejenige, die auch über Einstellungen und Entlassungen entscheidet. Ich wollte aber nicht, dass „der Vorfall“ berufliche Konsequenzen für S. hat. So wenig ich ihn kannte, wusste ich immerhin, dass er seine Arbeit liebte, Kinder zu versorgen hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er keine Gefahr für andere Kolleginnen darstellte – in seinen Emails schrieb er, er hätte Gefühle für mich und diese auf die falsche Art ausgedrückt, es täte ihm leid.

Ich sprach also nicht mit der „offiziellen Instanz“, sondern „nur“ mit meinen beiden Kolleginnen. Von ihnen habe Unterstützung, Verständnis und Solidarität erfahren, für die ich bis heute zutiefst dankbar bin. Eine von ihnen begleitete mich, als ich mich schließlich mit S. traf, um ihn ein für alle Mal zu verstehen zu geben, dass er aufhören soll, mir Emails zu schreiben. Ich sagte ihm ins Gesicht, dass ich nie mit ihm arbeiten würde, dass er mich unglaublich verletzt hat, dass er keine Ahnung hat, wer ich bin. Ich bin bis heute stolz darauf, dass ich das geschafft habe. Er stand mit zitternden Händen und hochrotem Gesicht vor mir und hat nicht einmal hinbekommen, mir in die Augen zu sehen.

Danach habe ich einfach meine Arbeit weiter gemacht und irgendwann aufgehört, an den „Vorfall“ und an S. zu denken. Bis diese Arbeitsgruppe eingerichtet wurde.

Im Raum mit dem Täter

Natürlich hat mich niemand gefragt, ob ich da mitmachen möchte. Das ist nun einfach so, das wurde so entschieden. Als mein Kollege mir erzählte, wer außer uns Teil dieser Gruppe ist, wurde mir schlecht und ich konnte mich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren. Ich sagte ihm, dass ich mit einer der Personen aus guten, persönlichen Gründen nicht arbeiten könne, dass das emotional belastend für mich sei. Ich glaube nicht, dass er die Tragweite verstanden hat. Und er kann ohnehin nichts daran ändern, dass wir beide nun dort mitarbeiten. Wenn ich da raus wollte, müsste ich zu meinem Chef gehen.

Aber was würde er sehen? Eine „hysterische“ Frau, die auch nach einem Jahr noch überreagiert wegen eines „kleinen“ Vorfalls? Ich glaube, ich tue ihm Unrecht mit solchen Gedanken, aber ich werde sie trotzdem nicht los. Ich habe Angst um etwas Abstraktes, um mein „professionelles Standing“, um das Bild der selbstbewussten, klugen, bestimmten Frau, die ich auf meiner Arbeit bin. Ich will nicht, dass mein Vorgesetzter weiß, dass mich das alles so sehr mitnimmt, will nicht, dass er glaubt, ich sei „schwach“ und „emotional“. Internalisierter Sexismus, ich weiß. „Männliche“ Eigenschaften = gut & karrierefördernd. „Weibliche“ Eigenschaften = schlecht & karrierehemmend.

Also war meine erste Strategie, mit der Situation umzugehen, mich penibel auf alle Sitzungen vorzubereiten, um mitdiskutieren zu können, um mein professionelles Gesicht zu wahren. Jeder Satz in dieser Runde war ein Kraftakt für mich. Jede spannende Diskussion, jede inspirierende Idee wurde überstrahlt davon, dass ich nicht in diesem Raum sein wollte. Immerhin gab es zwischendurch Momente, in denen ich so auf ein Thema oder andere Leute konzentriert war, dass ich S. kurz vergaß. Aber die Zweifel blieben. Werde ich mich wirklich „mit der Zeit“ besser fühlen? S. sah mich nie an, obwohl er die Sitzungen moderierte. Ob das den anderen auffällt?

Meine Freund_innen sagten, zieh dich aus dieser Gruppe raus, wenn es dich so sehr belastet. Du musst keinen Raum mit einem Täter teilen. Es muss Möglichkeiten geben. Meine Kolleginnen sagten, pass auf dich auf. Du kannst dich da rausziehen. Es gibt Möglichkeiten. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte nicht aus der Gruppe raus, „nur“ weil dieser Typ da ist. Ich wollte ihm nicht diese Macht über mich einräumen. Ich wollte da mitarbeiten, aber ich wollte all diese Scheiße nicht mehr fühlen müssen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als irgendetwas zu tun.

Überlebensstrategien

Ich entschied mich dafür, zwei Dinge zu tun. Erstens wollte ich aus „meinem“ Problem von meiner persönlichen auf eine politische Ebene heben: Dass ich plötzlich mit S. arbeiten muss, ist nicht „mein“ Problem. Es ist ein strukturelles Problem der Institution, die keinerlei Vorkehrungen getroffen hat, um Betroffene von sexualisierten Übergriffen vor solchen Dilemmata zu schützen. Und nicht nur gibt es keine Schutzvorkehrungen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit betonen Menschen aus den Führungsetagen, sexuelle Belästigung gäbe es „bei uns zum Glück“ nicht. Ich wollte das Schweigen brechen und Kolleg_innen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zeigen: Ihr seid nicht allein.

Also kontaktierte ich den Betriebsrat und bot an, einen Artikel über meine Erfahrungen zu schreiben, ein Plädoyer für eine unabhängige Gleichstellungsbeauftragte. So konnte ich endlich etwas gutes aus meiner beschissenen Erfahrung machen, etwas, das vielleicht Veränderungen anstoßen würde.

Zweitens wollte ich noch einmal mit S. sprechen, einen Modus Vivendi herstellen – entgegen der Warnungen meiner Freund_innen und Kolleginnen, die mich alle an S.‘ Emails erinnerten und daran, dass es nicht meine Aufgabe sei, in Bezug auf ihn irgendeine Art von „Beziehungsarbeit“ zu leisten. Theoretisch hatten sie recht, praktisch halfen mir solche Kommentare nicht aus meiner Misere heraus. „Reden“ schien mir die einzige Möglichkeit zu sein, die Spannung in den Sitzungen aufzulösen.

Immerhin schien es ihm leid zu tun. Immerhin konnte er mir immer noch nicht in die Augen kucken. Offensichtlich ging es ihm auch nicht gut mit meiner Anwesenheit in dieser Runde. Und ich fand ihn ja nett, es gab Gründe dafür, weswegen ich gerne Kontakt zu ihm hatte, bis zu dem „Vorfall“. Ich glaube nicht, dass er ein schlechter Mensch ist. Ich glaube, dass er sich in einer einzigen, entscheidenden Situation wie ein Arschloch verhalten hat. Ich glaube, dass er ein Mann ist, der getan hat, was er sein Leben lang gelernt und geübt hat.

Also bat ich ihn um ein Gespräch. Es ist gut gelaufen. Es hätte genauso gut schrecklich schiefgehen können. Aber er gab mir Raum, noch einmal zu erzählen, wie sehr er mich verletzt hatte. Ich konfrontierte ihn auch damit, dass ich plante, einen Artikel über seinen Übergriff zu schreiben. S. schluckte und nahm das so hin. Er entschuldigte sich noch einmal, versuchte nicht, sich herauszureden. Er sagte, was er getan hat, beschäftige ihn seit einem Jahr, er habe viel über sich gelernt, was er nicht hatte lernen wollen, das sei wichtig und schmerzhaft gewesen. Ich glaube ihm. Und ich bemerkte in dem Gespräch, dass so etwas wie „Heilung“ möglich ist, dass es – zumindest zwischen uns – die Möglichkeit gibt, seinen Übergriff und dessen Folgen zu bearbeiten. Wenn ich ihn nun ansehe, dann sehe ich keinen „Täter“, sondern einen Mann, der sich seiner Täterschaft bewusst ist. Ich bin unendlich erleichtert und froh, dass ich nicht auf die warnenden Stimmen in meinem Umfeld, sondern auf meinen Instinkt gehört habe.

„Opfer-Täter-Ausgleich“ und „Erfahrung politisieren“ – diese beiden Ansätze waren schlussendlich die einzigen, die mir geholfen haben, mich in einer Situation, in der ich mit S. zusammenarbeiten muss, wieder stark und selbstbestimmt zu fühlen.

Was bleibt, ist das eklige Gefühl, dass ich aus beruflichen Gründen dazu gezwungen war, mich erneut mit einer beschissenen Erfahrung auseinanderzusetzen, ohne mich freiwillig dazu entschieden zu haben. Ich musste Zeit und sehr viel Kraft investieren, musste S. selbst ansprechen, weil mir bewusst war, dass er diesen Schritt nicht tun würde – ich hatte ihm ja sehr deutlich gemacht, dass ich nicht wollte, dass er mich erneut kontaktiert, dass ich nie mit ihm arbeiten würde. Keine von sexualisierter Gewalt (am Arbeitsplatz) betroffene Person hat es verdient, „alleine“ die Kämpfe ausfechten zu müssen, die ich ausgefochten habe. Gäbe es in der Institution irgendein Bewusstsein für sexualisierte Gewalt und ihre Folgen, gäbe es eine Ansprechperson, dann wäre mir das alles vielleicht erspart geblieben.

Ich bin mir sicher, dass es unzählige Menschen gibt, die ähnliches erlebt haben wie ich und niemals die Erfahrungen machen, dass Kolleginnen ihnen zur Seite stehen, dass der Täter ihnen gegenüber Verantwortung übernimmt, dass der Betriebsrat ihrer Geschichte zwei Seiten Platz in seiner Zeitschrift einräumt. Und selbst mit diesen Erfahrungen bleibt eine Verletzung, eine Enttäuschung, ein Misstrauen gegen Männer, die mit mir sprechen. Eine Narbe unter vielen, die mich daran erinnert, was es heißt, in dieser Welt eine Frau* zu sein.

wut_ventile

Wohin geht eigentlich all meine Wut? frage ich mich seit ein paar Tagen. Ich bemühe mich so sehr um Klarkommen_Verzeihen_Schwamm_Drüber_schlafen, dass ich ins Stolpern und Zweifeln komme. Warum schreie, weine, wüte ich eigentlich nicht? Wo steckt mein Schmerz?

Ist das auch ein Teil von meinem weiblich-sozialisiert-worden-sein, dass mir so schwer fällt, negative Gefühle gegen_über Andere_n zu spüren und auszudrücken? „Stell dich nicht so an“ „nimm dich zurück“ „reg dich nicht auf“ „sei nicht so“ „übertreib nicht“ „versetz dich doch mal in ihre perspektive“ „kuck dich selbst mal an“ „du hast doch auch…“

In meinem Umfeld kennen das viel mehr Menschen als ich erst dachte. Sogar eine Person, die ich als sehr stark_unmittelbar_wutbegabt wahrnehme, sagte mir gestern: für andere wütend sein fällt mir total leicht, aber für mich? das wird ganz schnell zu einer destruktiven kiste gegen mich selbst.

Ich kann mir lebhaft vorstellen, was für unglaublich ausdifferenzierte, individuelle Wege wir gefunden haben für unsere Wut, unseren Schmerz und unsere Enttäuschungen. Damit die schön in uns drinnen bleiben und nicht gefährlich werden für unsere Beziehungen_Welten. Ich zum Beispiel habe meinen unverw_ortbaren Schmerz in Gewalt gegen meinen Körper verwandelt. Ich habe ihn in wüste Bilder geschmiert oder in Alkohol ertränkt. Vor dem Fernseher oder in Büchern oder durch einfach-nicht-mehr-Aufstehen zu betäuben versucht.

Das sind alles klasse Strategien, wenn ich mit mir alleine klarkommen muss. Aber wenn ich den Menschen gegenüber stehe, die meine Wut und meinen Schmerz ausgelöst haben, wenn ich in meiner Außen_Welt über_leben möchte, helfen sie mir nicht. Mir fehlen die W_Orte für Wut in Beziehungen. Ich habe sie noch nicht gefunden_erlernt_erprobt, und das macht mich noch wütender. Weil ich sie brauche, wenn ich mich nicht schwach_hilflos_ausgeliefert_unvollständig_unsichtbar fühlen möchte. Weil ich ohne meine Wut und meinen Schmerz nicht ganz bin. Weil ich nicht nur lieb und harmlos und verständnisvoll und abwägend bin, sondern auch absolut irrational emotional. Und, weil ich ganz deutlich spüre, dass ich die Perspektive der Anderen nur dann anzunehmen beginnen kann, wenn auch all meine Gefühle W_Orte haben. Ohne sie komme ich keinen Schritt voran, und meine Beziehungen verarmen.

gefühle offenbaren

Meine Utopie ist eine Welt, in der Beziehungen Räume schaffen, in denen wir ehrlich sein können, offen, wir selbst. In denen wir gemeinsam Umgänge finden mit den Wünschen_Begehren_Bedürfnissen_Erwartungen, die in und zwischen uns entstehen. In denen wir einander wertschätzen und an_erkennen, be_stärken und be_schützen.

Aus meiner Utopie meine Praxis zu machen, finde ich gerade dann sehr schwer, wenn ich eine Person besonders toll finde, mich zu ihr_ihm stark hingezogen fühle und mir von ihr_ihm mehr (Aufmerksamkeit_Zeit_Nähe) wünsche als von den meisten anderen. Eigentlich ist mein Anspruch, so einer Person genau das sagen zu können. Und dabei unabhängig zu sein von ihrer_seiner Erwiderung. Unabhängig davon, ob sie_er von mir ähnlich viel möchte oder nicht.

Meine Gefühlsrealität ist aber oft anders, ich hoffe_wünsche_begehre Gegenseitigkeit. Ich merke, wie ich unsicher werde in der Gegenwart von so einer Person, wie ich mehr auf meine Füße und auf mich selbst kucke als ihr_ihm ins Gesicht. Ein Teil von mir macht pausenlos Saltos und Kopfstände und ruft „kuck hier bin ich sieh mich an find mich gut“ und ein anderer ist mit permanenter Selbstabwertung beschäftigt: „mensch, das ist voll uncool, übrigens bist du nicht sehr schön und nicht sehr lustig, lass es doch einfach“.

So verliere ich manchmal mich selbst und meine Utopie. Bis mir wie Schuppen von den Augen fällt, dass ich gerade so viele Dinge tue, die ich nicht (mehr) möchte: Ich spiele Spielchen. (Wenn sie_er sich nicht meldet, dann melde ich mich halt auch nicht.) Ich fahre Filme. (Sie_er hat heute keine Zeit, offensichtlich bin ich ihr_ihm egal.) Ich bin das Gegenteil von offen und ehrlich, ich mache mich abhängig, schwach und klein. Mein Begehren bleibt unausgesprochen, uneindeutig, missverständlich, weil ich es wenn, dann nur über gelernte Verhaltens_Muster kommuniziere.

Viel lieber möchte ich sagen können: „du, ich begehre dich, fühle mich hingezogen zu dir, du ziehst mich an, und darum genieße ich zeit mit dir, aufmerksamkeit von dir ganz besonders“.

Aber ist eine solche Offenbarung für die andere Person tatsächlich nur schön_anerkennend_wertschätzend? Nichts als ein Kompliment? Kann ich so offen sein und mich gleichzeitig frei machen davon, zu hoffen, dass sie_er für mich auch besonders fühlt? Setze ich eine Person damit unter Druck, zu reagieren, etwas zu erwidern? Ist der Preis dafür, dass ich mich besser_stärker_handlungsfähiger fühle, dass ich eine_n andere_n über_fordere? Wann stärken und vertiefen Offenheit und Ehrlichkeit Beziehungen, wann belasten sie sie? Wie viel Belastung ist okay? Wie gehe ich um mit meiner Angst, m_eine Beziehung zu verlieren?

Und welche Rolle spielen die W_Orte, die ich für meine Gefühle wähle? Möchte_kann ich zu einer Person sagen: „ich habe mich in dich verliebt“? Wenn ich mich so fühle und weil der Satz so groß und schön und diffus und unklar ist wie mein Innenleben? Oder kommt „verliebt“ automatisch im Paket mit belastenden, über_fordernden, einschränkenden Assoziationen und Konnotationen? Kann ich mich „verliebt“ nennen ohne gleichzeitig – auch unausgesprochen – zu fragen „du auch?“. Kann ich mich „verliebt“ nennen und glauben, dass m_einer Beziehung noch alle Entwicklungs_möglichkeiten offen stehen?

Ich glaube immer mehr, dass meine Utopie eigene W_Orte braucht, damit ich sie leben kann inmitten der Welt, die uns prägt. Es fordert mich heraus und es empowert mich, sie zu finden und sie zu äußern, und mit meinen eigenen Gefühlen und den Erwiderungen anderer so umgehen zu lernen, das wir und unsere Beziehungen an ihnen wachsen.

mager_sucht und beziehungen

Meine Mager_sucht hat mich jahrelang vor der „Welt“ und den „Anderen“ beschützt_abgeschirmt. Für sie habe ich meine ganze Aufmerksamkeit, Konzentration und Kraft gebraucht, mit ihr blieb mir kaum Raum für Andere_s. Das habe ich gespürt und oft hat es mich auch geärgert, dass ich nie ganz da und immer schnell wieder weg war. Inzwischen bin ich mehr da und bleibe länger. Vor allem versuche ich anzuerkennen und Umgänge damit zu finden, dass ich unbeholfen_ungeschickt_unsicher in meinen zwischenmenschlichen Beziehungen bin. Und dass das – nicht nur, aber viel – mit Mager_sucht_mustern zu tun hat, die ich jahrelang erprobt, perfektioniert und verinnerlicht habe.

Wie sie sich auf meine Beziehungen ausgewirkt hat, beginne ich erst jetzt zu verstehen – und viele Einsichten sind schmerzlich. Ich weiß nicht, wie oft ich mich schon für mein „schlechtes Kurzzeitgedächtnis“ entschuldigt habe, wenn ich wieder nichts mehr von dem Wichtigen wusste, das ein_e Freund_in eben erst mit mir geteilt hatte. Oft konnte ich mich schon auf dem Heimweg nicht mehr daran erinnern, worüber wir gesprochen haben. Einmal sagte mir ein enger Freund, es verletze ihn, dass ich ihn „wie einen Termin“ behandelte. Ich bin immer nach zwei Stunden gegangen, um mit meinem Hungern allein zu sein. Damit keine_r bemerkte, wie sehr es mich bestimmte. Oft genug war ich auch verbal verletzend, weil mir etwas aggressives_unachtsames einfach herausgerutscht ist. Das passiert einer schnell, die mit ihrem ganzen Körper und Geist nur beim Nicht_Essen ist.

Meine Mager_sucht war die Nebelwand, hinter der die Anderen verschwunden sind. Dass mir Menschen näher kommen, emotional und körperlich, war lange undenkbar und bleibt belastet_schwer für mich.

Inzwischen komme ich (wieder) näher heran an all meine Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, Ängste und Unsicherheiten. Ich erfahre (wieder), dass meine Gefühle für Andere_s überwältigend intensiv sein können. Ich mache Minischritte auf Menschen zu, lerne (neu), wie einander nah sein sich anfühlt.

Das ist super, na klar. Ich kann kaum in Worte fassen, wie dringend und sehr ich die Welt umarmen möchte, weil mir so viel Schönes gelungen ist. Schönes, das für mich sehr lange undenkbar war: mit einer Freundin einen ganzen Tag verbringen, eine streicheln und meinen Kopf an ihre Schulter lehnen, eine neue Bekanntschaft treffen und zuhören_wertschätzen_kennenlernen, eine ganze Nacht mit eigentlich fremden Menschen lachen_reden_biertrinken_tanzen, überwältigend viel Liebe und Wertschätzung empfinden für zwei, die schon lange aber plötzlich so viel greifbarer in meinem Leben sind. Und immer wieder habe ich Lust_Appetit_Hunger auf mehr.

Aber es gibt auch Momente, in denen mein neuer_wiederentdeckter Hunger mir Angst macht. Was, wenn ich zu viel will? Übertreibe? Über_fordere? Ent_täuscht werde? Mich verletzlich mache? Liebe_begehre_wünsche, aber nicht geliebt_begehrt_erwünscht werde_bin?

Es fällt mir schwer, mit meinen Unsicherheiten_Ängsten_Zweifeln umzugehen, sie auszuhalten und anzuerkennen. Gleichzeitig macht es mich stolz, sagen zu können: Seht hier, ich hab wieder Räume für Menschen in meinem Leben, damit bin ich zwar immer mal wieder überfordert, aber hey! Auch dafür ist Platz!

dicke mädchen im freiluftkino

Gestern habe ich mir den gehypt-lobpreisten großartigen! LowBudget-Film „Dicke Mädchen“ angeschaut, im Körnerparkkino in Neukölln mit ganz schön vielen anderen Menschen zusammen. Die Handlung geht so: Zwei Männer im mittleren Lebensalter verlieben sich ineinander. Die uralte Mutter des einen ist die Klammer, die sie zunächst zusammenbringt und -hält. Als sie stirbt, müssen die beiden sich und ihre Beziehung zueinander neu_er_finden, scheitern daran. Am Ende bricht einer auf.

Ich fand das eine wunderschöne, zurecht „herzerwärmend“ genannte Geschichte. Beizeiten ist sie fast unangenehm nah dran an den Protagonisten, denen direkt drauf gefilmt wird auf ihre nicht-schönheitsnormkonformen Körper, in ihre Verunsicherung und mehr-so-Peinlichkeiten. Ihre Annäherung und Entfremdung ist voll von großen kleinen Momenten, ihre Sprach_Wort_losigkeit zum Schreien komisch_beklemmend.

Auf diese Nähe haben auch wir Zuschauer_innen reagiert, heftig zum Teil. Wie ein Kippbild kam mir das vor: Mit_An_lachen_strahlen_freuen. R_Aus_lachen_kichern_geifern. Und von vorne.

Körperbilder haben Menschen neben mir lautstark stöhnend kommentiert mit „bitte-nicht-oh-nein-oh-Gott-igitt“. Lagen die Protagonisten aneinandergeschmiegt im Bett, ging ein kollektives „Süüüüüüüüüüüüüüüß“ durch die Reihen. Neben mir war ein Typ pausenlos dabei, s_einer Freundin auf seinem Schoß die Zunge ins Ohr und die Hände unters Shirt zu stecken. Massig Heteroperformance auch auf anderen Plätzen, Typen die sich dr_auf_lehnten, Anspruch markierten, ganz eindeutig waren.

Für mich atemberaubend viele Dimensionen von Abwehr. Da haben Leute einer lautstark leinwandfüllenden Geschichte doch noch Raum genommen, sie immer dann un_sicht_hör_bar gemacht, wenn ihnen der mehrfache Tabubruch unerträglich wurde. Wie ein kollektives Raunen: „so ne liebe zwischen zwei dicken typen, die gucken wir uns gerne mal an, die halten wir schon aus, wir können sie ja clownifizieren_ungefährlich_lächerlich_machen“.

Mir ist an dem Abend bewusst geworden, dass Mit_ansehen_erleben_fühlen auch weggelacht werden kann. Mit den Fingern auf die nicht-norm_schönen_jungen_liebenden Körpern zeigen und „ooooch“ machen ist auch ein von-uns-wegweisen.

Davon steckt schon was im Titel. „Dicke Mädchen“ kommen gar nicht vor. Aber sie erinnern daran, dass ein Thema des Films nicht-normgemäße Männlichkeit ist. „Dicke Mädchen“ klingt so süß_niedlich_unmündig. „Dicke Mädchen“ macht leichter, sich mit den Protagonisten nicht zu identifizieren. Heult doch, ihr seid nicht wie wir.

Und am Ende gabs standing ovations für den Regisseur.